Dienstag, 2. Juli 2013

Hand Cut - Claire Brewster

--> Die Menschheit hat die Welt über Jahrhunderte kartografiert, um sich in ihr zurechtzufinden und ihre Phänomene wissenschaftlich zu entschlüsseln. Bevölkerungs-, Straßen-, Landkarten und Stadtpläne haben seit jeher in ihrer scheinbar chaotischen Struktur eine ganz spezielle Wirkung auf uns. Es sind vereinfachte Kopien unserer Umwelt und Instrumente, unser Leben und die Natur, die uns umgibt, zu verstehen.
Claire Brewster nutzt „das metaphorische Talent“ des Kartenmaterials, um unsere Wahrnehmung der Natur neu zu inspirieren. Sie schneidet Vögel, Bienen, Schmetterlinge und Pflanzen aus ihm heraus, und zwar so realistisch und detailgetreu, dass man meinen könnte, die Tiere wären lebendig. Mit einfachen Stecknadeln werden sie an die Wand gepinnt, ganz zaghaft, sodass zwischen Papier und Wand noch Platz bleibt. Auf diese Weise verleiht Brewster ihren Wesen Dreidimensionalität, denn ihre Schatten machen sie körperlich.

Ihre Silhouetten und anatomischen Details werden sorgfältig von Hand aus den Karten herausgeschnitten. Linien, Zeichen und Symbole, Konturen, Schriften, Breiten- und Längengrade harmonieren reizvoll abstrahierend mit den natürlichen Konturen der ausgeschnittenen Tiere. Claire Brewsters Geschöpfe kennen keine Grenzen und Sackgassen; sie agieren unabhängig, fernab jeder menschlichen Ordnung. Jedes von ihnen ist freier als wir selbst: Wir glauben nur, dass uns die Welt gehört, in Wahrheit aber sind wir völlig machtlos! Das ist die versteckte Botschaft, die Brewsters eindrucksvolle Kreationen in die Welt tragen.Auch der Gedanke, den Dingen, die ihren ursprüngliche Zweck verloren haben, einen neuen zuzuweisen, gefällt ihr. Heute sind digitale Wegweiser per Satellit und Navi auf Knopfdruck verfügbar. Blind vertrauend nehmen wir Umwege in Kauf und das erweiterte Umfeld kaum wahr. Claire Brewster hingegen liebt die inspirierenden Überraschungen und Entdeckungen, die ihr die herkömmlichen Kartenwerke bieten.

Schon als Kind sammelte Claire Karten von allen Erdteilen: »Ich war fasziniert davon, um die Welt reisen zu können, ohne mein Kinderzimmer dafür verlassen zu müssen.« Noch heute studiert sie die Karten eingehend, aber nun aus einem anderen Grund: Claire will herausfinden, welche Areale sich am besten für die geplanten Silhouetten eignen. Auch die gute Papierqualität und die präzisen Drucke der alten Karten beeindrucken die Künstlerin. Fündig wird sie im Internet, in den Antiquariaten und auf den vielen Flohmärkten der britischen Hauptstadt.
Aufgewachsen ist Claire Brewster in der ländlich geprägten Grafschaft Lincolnshire an der Ostküste. Zum Studieren ging sie nach London. Sie schrieb sich an der Middlesex University für Textiltechnik ein. Claire Brewster blieb und lebt und arbeitet nun seit 25 Jahren in der britischen Metropole. Zu Beginn ihrer Künstlerkarriere beschäftigte sie sich überwiegend mit Collagen. 2002 wandte sie das erste Mal die „Paper Cut“-Technik im Kontext einiger ihrer Collagen an. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Claire noch nicht, dass sich daraus eine für sie neue und originäre Methode entwickeln wird.



Eine besondere Attraktion geht für Claire Brewster auch von der handwerklichen – kontemplativen – Arbeit des Papierschneidens aus. Der Prozess des Werkelnsund Machens mit den eigenen Händen gefällt ihr außerordentlich gut. Er beinhaltet die Möglichkeit, ursprünglich Geplantes zu verändern, Fehler zu machen und darüber neue Wege zu finden. »Für mich spielt es keine Rolle, wie lange ich für eine Arbeit brauche. Natürlich könnte ich die Silhouetten auch von einer Maschine
ausstanzen lassen, doch ich genieße es, ein Messer in die Hand zu nehmen und die Figuren aus dem Material zu schneiden.«, so Claire. Eine Maschine zu nutzen bedeutete für sie, eine Schranke zwischen sich und ihre Arbeit zu setzen. Sie forciert es also nicht.
2012 experimentierte Claire erstmals mit einem Digital Cutter. Er kann aus allen möglichen Materialien jede beliebige Form schneiden. Natürlich auch ausLandkarten. Damit der Cutter weiß, was er ausschneiden soll, müssen zunächst mittels einer Software aus den eigenen Zeichnungen Vektorgraphiken erstellt werden. Generell sind die Arbeitsabläufe sehr komplex und Fehler darf man nicht machen. Inzwischen kann sich Claire aber vorstellen, sich bestimmte Motive und Arbeiten von der Technik abnehmen zu lassen. Die wachsende Nachfrage und der aktuell hohe Preis für ihre handgeschnittenen Objekte sprechen dafür. Dennoch, ihre eigenen Handzeichnungen maschinell geschnitten empfindet sie selbst als neuartig und fremd.


Ihre thematischen Inspirationen bezieht Claire Brewster zu gleichen Teilen aus einer intensiven Naturbeobachtung, aufmerksamer Zeitungslektüre, ihrem Kartenarchiv und der persönlichen Wahrnehmung ihres Umfeldes Zuhause und auf Reisen. In den letztenJahren kamen auch immer mehr Aufträge dazu, die eine bestimmte Orientierung nahe legten. „Am interessantestenfinde ich den Prozess des Filterns, wenn Eindrücke verschmelzen und eine Inspriation zur Idee wird“, betont Claire. Für die Ausstellung „Art of Mapping“ in der Air Gallery Maifair in London entstand 2011 die Arbeit „The Harbingers“ – eine Installation aus 60 Spatzensilhouetten, die sorgfältig aus geologischen Karten des Vereinigten Königreichs geschnitten wurden. Spatzen werden eher als aufdringlich und Plage wahrgenommen, obwohl ihre Population gerade rapide abnimmt. Immer seltener sieht man die sprichwörtlich frechen Spatzen, die sich lebhaft und vorlaut im Alltag behaupten und mutig ihre Beute auch gegen größere Vögel verteidigen. „Ich wollte mit meiner Installation diesen Vögeln mehr Wertschätzung entgegenbringen und hoffe, damit auch bei meinen Mitmenschen etwas auszulösen“, so die Mittvierzigerin.

„The Birds And The Bees“ war eine Auftragsarbeit 2012 für ein Hotel in London, das zwischen dem Victoria & Albert Museum und dem NaturhistorischenMuseum liegt. Als Ausgangspunkt diente Claire ein Stoffdekor aus dem 18. Jahrhundert, das Vögel und Insekten kombinierte und von Claire im V&A entdeckt wurde. „Die Motive habe ich zunächst mit Bleistift auf Transparentpapier übertragen und dann aus Vintage- Karten von London ausgeschnitten.“, so Claire.

Ihre Installationen erregen viel Aufmerksamkeit und Bewunderung, so wie auch ihr Beitrag zur Ausstellung „Mind the Map“ des Londoner Transport Museums. Das Material stellte dieses Mal das Museum zur Verfügung, darunter auch U-Bahn Pläne aus dem Jahr 1987, in dem Claire nach London zog. Die Künstlerin ließ Unkraut aus den Plänen wachsen. Es lugt dort hervor, wo keiner hinschaut: in den Fugen von Mauerwerk und Gehwegplatten. „From a time when everything seemed possible“ („Aus einer Zeit,als alles noch möglich schien“) nennt Brewster dieses Werk doppeldeutig.


Die jüngste Installation entstand für eine Ausstellung der Manchester Art Gallery „The First Cut“, die noch bis 2014 durch England tourt. Claire Brewster lässt dieses Mal 60 Schmetterlinge frei. Bei den Faltern handelt es sich um Arten, die vom Aussterben bedrohtsind. Claire hat sie alle intensiv studiert, um ihre Physiognomie wirklich zu begreifen. Sie hat sie aus einer orographischen Karte von Großbritannien (die Höhenstrukturen wiedergibt) herausgeschnitten. In Manchesterz. B. umschwärmen sie ein präraffaelitisches Gemälde. Claire Brewster Arbeiten zirkulieren alle um ein
zentrales Thema: die Schönheit und Freiheit der Naturim subtilen Kontrast zu den kreativen Versuchen der Menschen, sich ihre Phänomene strukturiert und systematisch zu erschliessen. Die Künstlerin macht den Menschen mit ihren Paper Cuts ein Geschenk: einen Moment der Besinnung und Ruhe beim Anblick ihrer Werke. Und sie appelliert an uns: Jede handwerkliche und wissenschaftliche Präzision können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es sind, die die Natur respektieren sollten, nicht umgekehrt.

© Schnuppe von Gwinner 2012 - veröffentlicht in der Zeitschrift Handmade Kultur 2/2013 April - August 2013

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