Claire Brewster nutzt „das
metaphorische Talent“ des Kartenmaterials, um unsere Wahrnehmung
der Natur neu zu inspirieren. Sie schneidet Vögel, Bienen,
Schmetterlinge und Pflanzen aus ihm heraus, und zwar so realistisch
und detailgetreu, dass man meinen könnte, die Tiere wären lebendig.
Mit einfachen Stecknadeln werden sie an die Wand gepinnt, ganz
zaghaft, sodass zwischen Papier und Wand noch Platz bleibt. Auf diese
Weise verleiht Brewster ihren Wesen Dreidimensionalität, denn ihre
Schatten machen sie körperlich.
Ihre Silhouetten und anatomischen
Details werden sorgfältig von Hand aus den Karten herausgeschnitten.
Linien, Zeichen und Symbole, Konturen, Schriften, Breiten- und
Längengrade harmonieren reizvoll abstrahierend mit den natürlichen
Konturen der ausgeschnittenen Tiere. Claire Brewsters Geschöpfe
kennen keine Grenzen und Sackgassen; sie agieren unabhängig, fernab jeder menschlichen Ordnung.
Jedes von ihnen ist freier als wir selbst: Wir glauben nur, dass uns die Welt gehört, in Wahrheit aber
sind wir völlig machtlos! Das ist die versteckte Botschaft, die
Brewsters eindrucksvolle Kreationen in die Welt tragen.Auch der
Gedanke, den Dingen, die ihren ursprüngliche Zweck verloren haben,
einen neuen zuzuweisen, gefällt ihr. Heute sind digitale Wegweiser
per Satellit und Navi auf Knopfdruck verfügbar. Blind vertrauend
nehmen wir Umwege in Kauf und das erweiterte Umfeld kaum wahr. Claire
Brewster hingegen liebt die inspirierenden Überraschungen und Entdeckungen, die
ihr die herkömmlichen Kartenwerke bieten.
Schon als Kind sammelte Claire Karten
von allen Erdteilen: »Ich war fasziniert davon, um die Welt reisen
zu können, ohne mein Kinderzimmer dafür verlassen zu müssen.«
Noch heute studiert sie die Karten eingehend, aber nun aus einem
anderen Grund: Claire will herausfinden, welche Areale sich am besten
für die geplanten Silhouetten eignen. Auch die gute Papierqualität und die präzisen Drucke der alten
Karten beeindrucken die Künstlerin. Fündig wird sie im Internet, in den Antiquariaten und auf den vielen
Flohmärkten der britischen Hauptstadt.
Aufgewachsen ist Claire Brewster in der
ländlich geprägten Grafschaft Lincolnshire an der Ostküste. Zum
Studieren ging sie nach London. Sie schrieb sich an der Middlesex
University für Textiltechnik ein. Claire Brewster blieb und lebt
und arbeitet nun seit 25 Jahren in der britischen Metropole. Zu
Beginn ihrer Künstlerkarriere beschäftigte sie sich überwiegend
mit Collagen. 2002 wandte sie das erste Mal die „Paper Cut“-Technik
im Kontext einiger ihrer Collagen an. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Claire noch
nicht, dass sich daraus eine für sie neue und originäre Methode
entwickeln wird.
Eine besondere Attraktion geht für
Claire Brewster auch von der handwerklichen – kontemplativen –
Arbeit des Papierschneidens aus. Der Prozess des Werkelnsund Machens
mit den eigenen Händen gefällt ihr außerordentlich gut. Er
beinhaltet die Möglichkeit, ursprünglich Geplantes zu verändern,
Fehler zu machen und darüber neue Wege zu finden. »Für mich
spielt es keine Rolle, wie lange ich für eine Arbeit brauche.
Natürlich könnte ich die Silhouetten auch von einer Maschine
ausstanzen lassen, doch ich genieße
es, ein Messer in die Hand zu nehmen und die Figuren aus dem Material
zu schneiden.«, so Claire. Eine Maschine zu nutzen bedeutete für
sie, eine Schranke zwischen sich und ihre Arbeit zu setzen. Sie
forciert es also nicht.
2012 experimentierte Claire erstmals
mit einem Digital Cutter. Er kann aus allen möglichen Materialien
jede beliebige Form schneiden. Natürlich auch ausLandkarten. Damit
der Cutter weiß, was er ausschneiden soll, müssen zunächst
mittels einer Software aus den eigenen Zeichnungen Vektorgraphiken
erstellt werden. Generell sind die Arbeitsabläufe sehr komplex und
Fehler darf man nicht machen. Inzwischen kann sich Claire aber
vorstellen, sich bestimmte Motive und Arbeiten von der Technik abnehmen zu
lassen. Die wachsende Nachfrage und der aktuell hohe Preis für ihre
handgeschnittenen Objekte sprechen dafür. Dennoch, ihre eigenen
Handzeichnungen maschinell geschnitten empfindet sie selbst als
neuartig und fremd.
Ihre thematischen Inspirationen bezieht
Claire Brewster zu gleichen Teilen aus einer intensiven
Naturbeobachtung, aufmerksamer Zeitungslektüre, ihrem Kartenarchiv
und der persönlichen Wahrnehmung ihres Umfeldes Zuhause und auf
Reisen. In den letztenJahren kamen auch immer mehr Aufträge dazu,
die eine bestimmte Orientierung nahe legten. „Am interessantestenfinde ich den Prozess des Filterns,
wenn Eindrücke verschmelzen und eine Inspriation zur Idee wird“, betont Claire. Für die
Ausstellung „Art of Mapping“ in der Air Gallery Maifair in London entstand 2011
die Arbeit „The Harbingers“ – eine Installation aus 60
Spatzensilhouetten, die sorgfältig aus geologischen Karten des
Vereinigten Königreichs geschnitten wurden. Spatzen werden eher als
aufdringlich und Plage wahrgenommen, obwohl ihre Population gerade
rapide abnimmt. Immer seltener sieht man die sprichwörtlich frechen
Spatzen, die sich lebhaft und vorlaut im Alltag behaupten und mutig
ihre Beute auch gegen größere Vögel verteidigen. „Ich wollte mit meiner
Installation diesen Vögeln mehr Wertschätzung entgegenbringen und
hoffe, damit auch bei meinen Mitmenschen etwas auszulösen“, so die
Mittvierzigerin.
„The Birds And The Bees“ war eine
Auftragsarbeit 2012 für ein Hotel in London, das zwischen dem
Victoria & Albert Museum und dem NaturhistorischenMuseum liegt.
Als Ausgangspunkt diente Claire ein Stoffdekor aus dem 18.
Jahrhundert, das Vögel und Insekten kombinierte und von Claire im
V&A entdeckt wurde. „Die Motive habe ich zunächst mit
Bleistift auf Transparentpapier übertragen und dann aus Vintage-
Karten von London ausgeschnitten.“, so Claire.
Ihre Installationen erregen viel
Aufmerksamkeit und Bewunderung, so wie auch ihr Beitrag zur
Ausstellung „Mind the Map“ des Londoner Transport Museums. Das
Material stellte dieses Mal das Museum zur Verfügung, darunter auch
U-Bahn Pläne aus dem Jahr 1987, in dem Claire nach London zog. Die
Künstlerin ließ Unkraut aus den Plänen wachsen. Es lugt dort
hervor, wo keiner hinschaut: in den Fugen von Mauerwerk und
Gehwegplatten. „From a time when everything seemed possible“
(„Aus einer Zeit,als alles noch möglich schien“) nennt Brewster
dieses Werk doppeldeutig.
Die jüngste Installation entstand
für eine Ausstellung der Manchester Art Gallery „The First Cut“,
die noch bis 2014 durch England tourt. Claire Brewster lässt dieses
Mal 60 Schmetterlinge frei. Bei den Faltern handelt es sich um Arten,
die vom Aussterben bedrohtsind. Claire hat sie alle intensiv
studiert, um ihre Physiognomie wirklich zu begreifen. Sie hat sie aus
einer orographischen Karte von Großbritannien (die Höhenstrukturen
wiedergibt) herausgeschnitten. In Manchesterz. B. umschwärmen sie
ein präraffaelitisches Gemälde. Claire Brewster Arbeiten
zirkulieren alle um ein
zentrales Thema: die Schönheit und
Freiheit der Naturim subtilen Kontrast zu den kreativen Versuchen der
Menschen, sich ihre Phänomene strukturiert und systematisch zu
erschliessen. Die Künstlerin macht den Menschen mit ihren Paper
Cuts ein Geschenk: einen Moment der Besinnung und Ruhe beim Anblick
ihrer Werke. Und sie appelliert an uns: Jede handwerkliche und wissenschaftliche Präzision können
nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es sind, die die Natur
respektieren sollten, nicht umgekehrt.
©
Schnuppe von Gwinner 2012 - veröffentlicht in der Zeitschrift
Handmade Kultur 2/2013 April - August 2013
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